Kleiner Bruder

Bremen hat so seine Macken – aber man kennt viel zu wenig davon, und wenn man dort war, kann man nicht genug kriegen.

Bremen ist der kleine Bruder. Nicht nur von Hamburg. Bremens Flair verströmt ganz unabhängig vom großen Bruder. Mit 550.000 Menschen ist die Hansestadt Bremen – oder HB, wie die Einwohner schreiben – zwar die zehntgrößte deutsche, aber doch eine große Kleinstadt oder kleine Metropole geblieben. Die hübsche Stadt an der Weser gehört in Deutschland aus unerfindlichen Gründen nicht zu den beliebtesten – genießt sie ja doch die Vorteile des Stadtstaats, liegt dennoch in den meisten Ländervergleichen am Ende. Neuerdings schreiben Zeitungen bereits vom „deutschen Griechenland“: enorme soziale Unterschiede, beträchtliche Mankos in der Bildung, strukturelle Defizite. Das chronisch klamme Bremen, seit 69 Jahren Jahren von der SPD regiert, hat trotzdem die pro Kopf höchsten Spareinlagen Deutschlands. Bei den jüngsten Wahlen haben die Sozialdemokraten bei aktuell 33% wieder deutlich verloren, doch eine Fortsetzung der Koalition mit den Grünen geht sich rechnerisch aus. Nach dem überraschenden Rücktritt des Langzeitbürgermeisters Böhrnsen mag es die Chance auf eine Erneuerung geben. Der triste Osten mit seiner Siebziger-Jahre-Architektur, der Sven Regener mit dem Roman „Neue Vahr Süd“ ein Denkmal setzte, und auch große Teile von Bremen-Nord sind von Armut bedroht, fast ein Viertel der Bremer gilt laut aktuellem Armutsbericht des „Paritätischen Gesamtverbands“ als arm.

Vom Roland zum Schnoor. Im Zentrum merkt man davon nichts. Bremen ist ein touristischer Geheimtipp: überschaubarer und hübscher als Hamburg, erstreckt sich auf kleiner Fläche eine wunderbar lebendige Fußgängerzone. Mitten drin steht ein außergewöhnlicher Roland. So nennt man mittelalterliche Ritterstandbilder, die das Stadtrecht versinnbildlichen – der Bremer Roland aus 1404 ist die berühmteste. An der Rückseite des Rathauses befindet sich eine andere winzige Statue, die Bremer Stadtmusikanten. Um einen Wunsch frei zu haben, nimmt man die Pferdebeine in beide Hände und reibt. Berührt man sie mit nur einer Hand, so geht das Wort, gibt ein Esel dem anderen selbige. Vorsicht, denn die Mittouristen stehen auf drei Seiten gierig Schlange: „Ob Sie wohl ganz kurz fürs Foto weggehen können?“
Bremen ist voll von Einzigartigkeiten – so das 100 Meter lange Kulturdenkmal Böttcherstraße. Der Kaffee-Unternehmer Ludwig Roselius ließ zwischen 1922 und 1931 Architekten des Expressionismus in einer Altstadtstraße freie Hand. Herausgekommen ist ein Beispiel für den Backsteinexpressionismus, der die mittelalterliche Straßenbaukunst zugleich persifliert und intensiviert. Das tollste Bremer Gebiet ist jedoch der Schnoor. Die Spielzeughäuschen dieses ursprüngliche Flussfischer- und Schifferquartiers stammen vorwiegend aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Nie lag er direkt an der Weser, doch ein Seitenarm des unregulierten Flusses kreuzte die Straßen des Schnoors, dessen Bezeichnung auf „Schnur“ zurückgeht, denn hier wurden unter anderem Taue und Seile erzeugt.

Die Kaffeestadt, unabsteigbar. Münchhausen macht den besten Kaffee Bremens – ohne ein Caféhaus zu betreiben. In einer kleinen Seitenstraße, geprägt durch die unauffällige Hintertür des Sexshops „Intimchen“, befindet sich ein noch unauffälligerer Eingang. Innen herrscht Ilse Münchhausen, eigentlich Mathematikerin, über einen wunderbar anachronistischen Kaffeebetrieb mit privater Rösterei, wo in den hinteren Räumen Kaffee „frisch im schonenden Langzeitröstverfahren veredelt wird“. Sie ist die Tochter des Kaffeepioniers August Münchhausen, der 1935 einen Versandhandel gründete und bald zu einer Rösterei mit eigenem Trommelröster expandierte. „Verleserei – Packerei – Rösterei – allerlei indianische Getränke“, sagt die alte Werbung. Der Mann röstete bis nach der Jahrtausendwende, mit 92 war er Deutschlands ältester Kaffeeröster – und bekam den Boom in seinen letzten Lebensjahren noch mit. Das Wundersamste an seiner Tochter ist wohl, dass sie kein schickes Ladengeschäft und keinen coolen Shop aus ihrer kleinen Verkaufsstelle macht – hier wird der Kaffee noch so vertrieben, wie er wirklich ist, hier duften die Bohnen aus Dutzenden Ländern, und in den Holzvitrinen liegen die schönsten Spezialitäten und ein vorsintflutliches Merchandising. Zweieinhalb Stunden pro Tag öffnet dieses versteckte Museum. „Bremen ist die klassische Kaffeestadt“, lächelt Ilse Münchhausen, „1673 gab es hier das erste Caféhaus – zehn Jahre vor Wien!“
Ein paar Hundert Meter weiter sitzt Michael Augustin in der „Bar Celona“, seinem Stamm-Frühstückslokal. Der drahtige Radioredakteur des Kultursenders Radio Bremen, geboren 1953 in Lübeck und nebenbei einer der bekanntesten Lyriker Deutschlands, hat bereits dreißig Minuten Schwimmhalle hinter sich. Er liebt die Stadt, in die er vor 36 Jahren gezogen ist, als der Anruf von Radio Bremen kam, ließ er seine Doktorarbeit sausen und lebt seitdem hier, „ich habe mich in diesem winzigen Bundesland, in dieser Stadtrepublik, gleich wohl gefühlt.“ Über die politische Situation schüttelt der Mann mit der wilden grauen Haarpracht den Kopf: „Bei den aktuellen Wahlen hatten die Leute die Nase gestrichen voll. In der Bundesliga würde man sagen: die SPD ist unabsteigbar – tja, denkste!“ Dass er an die Liga denkt, ist kein Wunder – Augustin ist der größte Fan des SV Werder Bremen. „Es gibt hier wirklich einen grün-weißen Lebensrhythmus. Werder ist das Fieberthermometer der Stadt. Ist Werder krank, ist die die ganze Stadt krank.“

7 Milliarden Mercedes. Bremen erzeugt Beck´s Bier (Export in 120 Länder) oder Philadelphia Käse (Kraft Foods). Größter privater Arbeitgeber ist jedoch das Mercedes-Werk mit seinen 13.000 Mitarbeitern. Auf dem Gelände der Marke Borgward (1939-1963) gehen heute um die 340.000 Autos mit dem Stern jährlich vom Band. In den Hallen herrscht Handy- und Fotografierverbot. Die Führungen sind etwas bizarr – der Guide repräsentiert das schnoddrig-augenzwinkernde „von oben herab“, das wohl den Charme dieser deutschen Leitmarke ausmacht. Selten, dass jemand so viele deutsche Vokabel verwendet, die der Durchschnittsbürger kaum benutzt.
Die zukünftigen Mercedes, großteils der C-Klasse, ruckeln auf einer Produktionslinie den Arbeitern entgegen, die gar nicht so aussehen wie klassische Fließbandarbeiter und tatsächlich abwechslungsreich eingesetzt werden: Neben dem Rotationsprinzip gibt es da die Tatsache, dass wegen der Sonderwünsche bei den Bestellungen theoretisch 7 Milliarden verschiedene Mercedes aus dem Werk kommen können. Die Zahl zeigt den Wahnsinn der puren Mathematik. Manchmal wirkt auch der Vortrag der Führung wie ein wahnsinniger Theatertext. „Lassen Sie alles noch einmal sacken“, heißt es am Ende.

Der Haven. 60 Kilometer nördlich. 1827 kaufte Bremen ein großes Stück Brachland an der Wesermündung. Heute erhebt sich hier die Exklave Bremerhaven, die einzige deutsche Großstadt an der Nordsee (110.000 Einwohner). Sie ist Teil des Landes Freies Hansestadt Bremen, sozusagen der kleine Bruder des kleinen Bruders. Der Hafenbereich, anders gesagt, das Stadtbremische Überseehafengebiet Bremerhaven, ist wiederum Exklave der Stadt Bremen, also einfach ein Teil von Bremen. Einfach, oder? Im vergangenen Wahlkampf führte diese Vernetzung dazu, dass die Partei der Piraten „das Ende der Kolonialzeit“ forderte. Sie erreichten 1,5%. Die Bremerhavener leben recht zufrieden in ihrer Abhängigkeit.
Für Besucher besteht Bremerhaven meist nur aus dem Überseehafengebiet, das gerne als „Klein Dubai an der Waterkant“ bezeichnet wird. Es liegt am „Atlantic Hotel Sail City“, von dessen Aussichtsplattform man den Weserdeich und die im Krieg zerbombte und etwas lieblos aufgebaute Hafenstadt betrachten kann. Hier oben wehen die Winde der Nordsee, da unten hocken die Museen. Neben dem Deutschen Schifffahrtsmuseum, dem Zoo am Meer, dem Museumshafen, und dem Historischen Museum Bremerhaven stechen zwei Gebäude ins Auge – ein neues aus Glas, Stahl und Beton schlägt die höheren Wellen – es heißt Klimahaus, ist ein „wissenschaftliches Ausstellungshaus“, und sein seriöser Ausstellungsteil, Erkenntnisse der Klimaforschung, wird überstrahlt von einer spektakulären virtuellen Reise entlang des 8. Längengrads – Bergdörfer, Wüstenhitze, arktische Kälte – eine mit allen Sinnen erfahr- und fühlbare Wissensvermittlung, perfekte Kinder- und Jugend-Entertainment, aber letztlich ohne Relevanz.
Ganz umgekehrt verhält es sich da beim deutlich kleiner dimensionierten Auswandererhaus, einem Erlebnismuseum im besten Sinne. Für 7,2 Millionen Menschen wurde Bremerhaven zum Ausgangspunkt ihrer Auswanderung. Am Eingang erhalten Besucher eine Keycard mit einem Namen eines von 34 exemplarischen Auswanderern, dessen Familiengeschichte sie so nachvollziehen können – während sie drei Schiffe mit ihrem unterschiedlichen Komfort kennenlernen, ein Segelschiff aus 1855, ein Dampfschiff aus 1887 und einen Ocean Liner aus 1929.
Nach all der dubaischen Schönheit sind die meisten Besucher froh, Bremerhaven nach einem Tag zu verlassen. Was tun in Bremen wenn es warm ist? Da klingen die Worte des Radioredakteurs Augustin nach: „Das Schönste bei uns ist die Weser, weil sie die Nähe des Meeres suggeriert.“

9.090 Zeichen


Box

1 Bremen Kaffeestadt [foto 7994 oder 8038]
Die Kaffeerösterei August Münchhausen, Geeren 24, 28195 Bremen, www.muenchhausen-kaffee.de, steht nur für einen Teil der Bremer Kaffeeaktivitäten. Kaufmann Ludwig Roselius (1874-1943) schätzte koffeinfreien Kaffee, weil sein Vater laut Ärzten mit 59 an übermäßigem Koffeingenuss gestorben war. Er schaffte es vor hundert Jahren, das Teufelszeug dem Kaffee zu entziehen, er ist auch der Gründer der Firma „Café HAG“. Bremen avancierte rasch zum Zentrum der europäischen Entkoffeinierungsindustrie. Auch heute noch kommt jede zweite Tasse Kaffee in Deutschland aus Bremen.

2 Bremen Markenstadt
Beck´s gehört zwar zur Firma „Global Players“, wird jedoch in Bremen hergestellt – pro Minute trinken 3.000 Menschen weltweit eine der grünen Flaschen mit dem Bremer Schlüssel als Logo. Ebenso wie Philadelphia, Miracoli, Toblerone (alle Kraft Foods, umbenannt in Mondelez), die europäischen Kellogg Cornflakes – aber auch Wurst, Obst und Gemüse oder Backzutaten werden hier produziert.

3 Bremen Radio- und Lyrikstadt [foto 8006]
Michael Augustin arbeitet als Rundfunkredakteur beim Kultursender Radio Bremen, der kleinsten Landesrundfunkanstalt der ARD, www.radiobremen.de, und Co-Direktor des von diesem Sender mitunterstützten Internationalen Literaturfestivals Bremens poetry on the road, www.poetry-on-the-road.com/de, das heuer in seiner 16. Auflage stattfand. Von Michael Augustin ist jüngst erschienen: „Denkmal für Baby Schiller“, Gedichte und Miniaturen, Edition Temmen, Bremen 2015.

4 Bremerhaven Fischstadt [foto 8164]
Der Natusch, kurz für den Besitzer Lutz P. Natusch, der mit Argusaugen nach dem Rechten sieht, ist eine Legende. Etwa 200 Meter von den Auktionshallen des Fischereihafens entfernt serviert er in einem gediegenem und etwas überladenen Ambiente den frischesten Fisch der Stadt. Neben Seezungen, Steinbutt, Seeteufel oder Rotbarsch die echte Limande, die es nur an dieser Küste gibt. Natusch, Fischereihafen-Restaurant, Am Fischbahnhof 1, 27572 Bremerhaven, www.natusch.de; der alte, restaurierte Fischereihafen an der Mündung der Weser hat zudem viele Fischlokale aller Kategorien, aber auch das Atlanticum, ein Seewasseraquarium und Erlebniszentrum, www.atlanticum.de.

5 Bremerhaven Museumsstadt
Klimahaus, Am Längengrad 8, 27568 Bremerhaven, www.klimahaus-bremerhaven.de; Deutsches Auswandererhaus, Columbusstraße 65, 27568 Bremerhaven, www.dah-bremerhaven.de; der würfelförmige Erweiterungsbau im hinteren Teil beherbergt seit seinem Bau vor zehn Jahren das Migrationsmuseum, das die Einwanderungsgeschichte nach Deutschland seit dem 17. Jahrhundert erzählt. Daneben gibt es noch u.a. das Deutsche Schifffahrtsmuseum, www.dsm.museum, der Zoo am Meer, ein Themenzoo für nordische Tierarten mit Bärenschwerpunkt, zoo-am-meer-bremerhaven.de und das Historische Museum Bremerhaven, früher „Städtisches Morgenstern-Museum“, www.historisches-museum-bremerhaven.de.

Die Reise wurde unterstützt von northern lights text & kommunikation GmbH, der Autor war eingeladen von der BTZ, der Bremer Touristik-Zentrale, www.bremen-tourismus.de.